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Gastbeitrag: Prof. Dr. Rolf Arnold, Dr. Hans-Joachim Müller
Universität Kaiserslautern

Rolf Arnold / Hans-Joachim Müller • Kaiserslautern
PISA-Mythen: Auftrieb für die mechanistische Pädagogik und Bildungspolitik

Manche mögen sicherlich ihre Freude daran haben. An der Art und Weise, wie in der öffentlichen Diskussion mit den Ergebnissen der PISA-Studien hierzulande nicht nur Politik gemacht wird, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer zunehmend auf der "schuladministrativen Ebene" gegängelt -und unter Druck gesetzt- werden. Kaum jemand, der sich noch traut, die impliziten Annahmen der PISA-Aufgeregtheit kritisch zu hinterfragen, auf die Diskussions- und Erkenntnisstände zu verweisen und -nachdenklich geworden- auch einmal an die Testeuphorie der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu erinnern, die auch nicht zu halten vermochte, was sie versprach. Die deutsche Bildungslandschaft scheint durch den damals schon realisierten Traum vom Messen und Bewerten um keinen Schritt besser geworden zu sein!

Die Annahme von der Wirksamkeit symbolischen Handelns

Und noch weniger wird die Logik der Bildungspolitik, die hier Auftrieb erhält, ideologiekritisch hinterfragt. Es ist die Symbolische Bildungspolitik einer zudem selbstvergessenen Sozialdemokratie, die sich mit handhabbaren und in der Öffentlichkeit „verkaufbaren" - neoliberal kontaminierten - Erklärungsmustem nährt, und dabei auch im Gewande einer arroganten Entschiedenheit mit dem Anspruch daherkommt, etwas zu verändern, egal was, so hat man den Eindruck. Mit diesem Aktivismus lässt sich gut die Taten losigkeit der vielen Jahrzehnte verschleiern, in denen sich die Bildungspolitik durch keine OECD-Kritik am deutschen Bildungswesen - von denen es zahlreiche gab! - aufschrecken ließ. Dies ist angesichts der Logik des Politischen sicherlich verstehbar, vor dem Hintergrund des erreichten Reflexionsstandes in den Erziehungswissenschaften allerdings voller Fragwürdigkeiten und Fahrlässigkeiten.

Die Annahme von der Messbarkeit persönlicher Kompetenzentwicklung

Ärgerlich ist allerdings, dass sich immer auch Erziehungswissenschaftler finden, die eilfertig zuarbeiten und so dem Traum der Messbarkeit mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit immer wieder neue Nahrung geben. Während die Kritische Pädagogik diesmal schweigt, will sie sich doch nicht dem Vorwurf rückständiger Bedenkenträgerei aussetzen oder sich gar mit den neuen Gralshütern einer „Bildungswissenschaft" anlegen, die den Namen nicht verdient, weil sie über statistisch-methodologische Raffinements hinaus in Wahrheit nichts zu erklären vermag. Es ist der Ausverkauf der Pädagogik, der hier vor sich geht. Kein Hinweis auf die Frage, wie sich die Aneignung von Kompetenzen in einer Gesellschaft vollzieht, die sich in Milieus differenziert, in denen Schule und Lehrerhandeln einer- und häufig nicht einmal der bedeutsamste - Faktor für die Entwicklung von Identität und Kompetenz im Lebenslauf darstellt. Und kein Hinweis auch auf die Frage, wie man diese mit der jeweiligen gesellschaftlich-kulturellen Situation einhergehenden Milieudifferenzierungen in so unterschiedlichen Kontexten, wie Griechenland, Finnland und Mexiko wirklich einigermaßen seriös vergleichen kann. Hier wird deutlich: Die statistisch-methodologische Korrektheit der Vergleichsuntersuchungen erzeugt einen Nimbus von „Wissenschaftlichkeit", der nicht hält, was man sich verspricht und den bereits die Fragen, was da eigentlich mit welcher Berechtigung verglichen wird und welche Interpretationen sich daraus substanziell ableiten lassen, vollständig in sich zusammenbrechen lassen.

So entstehen PISA-Mythen in einem Gemenge aus „Displaced Concretness" und Symbolischer Politik als eine die öffentliche Diskussion zunehmend beherrschende Wirklichkeitskonstruktion, deren einziger positiver Effekt darin besteht, dass Bildung in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit wieder höher im Kurs steht. Doch was nützt dies, wenn die impliziten Annahmen, welche dabei leitend sind, die Bildungspolitik zu Akzentsetzungen verleiten, deren systemische Wirkungen eher kontraproduktiv sind.

Die Annahme des Zusammenhangs zwischen einer erreichten Ranking-Position und der Rechtfertigung zur Besorgtheit

Welches sind diese impliziten Annahmen? Zum einen ist dies ein vermuteter Zusammenhang zwischen der erreichten  Ranking-Position  und  einer gerechtfertigten Besorgtheit über die Zukunft des Standortes Deutschland.

Für diesen Zusammenhang gibt es de facto zwar überhaupt keine Belege - so findet sich z.B. Luxemburg, welches den Rangplatz l bezüglich seines Bruttoinlandsproduktes pro Einwohner einnimmt, im PISA-Ranking auf Platz 29!? -, eine solche Einschätzung, die auch im politischen Diskurs immer wieder bemüht wird, ignoriert auch die weitgehend vergeblichen Bemühungen der Bildungsökonomie, Zusammenhänge zwischen Bildung und Wachstum wirklich überzeugend nachzuweisen. Statt dessen könnte man beispielsweise die Frage stellen, ob es gesamtwirtschaftlich - wie auch alltagspädagogisch - nicht wichtiger wäre, der aktuellen Lernergeneration durch das Bereitstellen exemplarischer Verwendungskontexte nicht nur die Themen und damit gute „Gründe für das Lernen" zu liefern, sondern - durch gemeinsam geteilte Erzählungen - diejenigen Bedeutungen zu verbreiten, welche den Jugendlichen eine persönliche Identität und ein Zugehörigkeitsgefühl zur menschlichen Gemeinschaft in einer globalisierten Welt ermöglichen (vgl. Postman 1995, S. 20ff.).

Die Annahme von der Lebenszentralität von Schule

Zum anderen überschätzt PISA die Lebenszentralität von Schule. Wenn es zutrifft, wie zahlreiche internationale Studien nahe legen, dass „etwa 70% aller menschlichen Lernprozesse außerhalb der Bildungsinstitutionen stattfinden" (Dohmen 2001, S. 7), dann wird hier der unwichtigere Bereich des formellen Lernens - entgegen dem internationalen Forschungsstand - fokussiert und damit das alte Bildungsdenken („Was Hänschen nicht lernt...") unreflektiert in die Zukunft hinein verlängert. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass gerade das deutsche Berufsbildungssystem - anders als die anderen PISA-Länder - über einen Ansatz verfügt, in welchem das Lernen am Arbeitsplatz von zentraler Bedeutung ist. Verfügt Deutschland hier am Ende über einen Kompetenzentwicklungsvorteil, der dem engen Focus der PISA-Studie verschlossen blieb, weil man nur sieht, was man anschaut?

Die Annahme von der Machbarkeit von Kompetenz und Bildung

Schließlich stärkt die Displaced Concretness der symbolischen PISA-Politik auch ein unsystemisches Denken, welches so tut, als seien intentionale Interventionen in komplexe Systeme leicht möglich und bislang bloß versäumt worden. Kein Wunder, dass sich dabei die Lehrerinnen und Lehrer schnell als die eigentlichen „Sündenböcke" erweisen, unterstellt man doch, dass die Qualität ihres Unterrichts der eigentliche Verursachungsfaktor für das schlechte Abschneiden im PISA-Vergleich sei - nach dem Motto, Kompetenz und Bildung seien „machbar". Das dem nicht so ist, weiß nicht erst die systemische Bildungs- und Managementforschung (u.a. Wimmer 2004), deren Konzepte einer Steuerung  „von innen heraus“ in der Schulentwicklungs-Debatte erst behutsam aufgegriffen werden. Solche systemischen Ansätze werden sich jedoch gegenüber den ebenso unbewussten wie mächtigen „didaktischen Traditionen" (Müller 2004) kaum durchsetzen können und deshalb mehr und mehr in sich zusammenbrechen, je mehr der PISA-Mythos um sich greift und letztlich den externen Standards und der Vergleichskontrolle den Vorrang einräumen. Welche Chancen haben Learning Communities und Methoden des lebendigen Lernens bei Lehrkräften, die wissen, dass der nächste Vergleichstest vorbereitet werden will, da die Konstruktion des Erfolges von Schule mit dem Abschneiden in diesem Test zusammenhängt und nicht mit dem kollegial erreichten Lernkulturwandel (vgl. Amold/Schüssler 1998) in der unterrichtlichen Praxis? Wird dadurch nicht eine Rückkehr in eine, sich an externen Standards orientierende pädagogische Professionalität gebahnt, während wir doch in anderen Veröffentlichungen, welche die Bildungspolitik in Auftrag gegeben hat, lesen können, dass Bildung und Kompetenzentwicklung i. S. „individueller Regulationsfähigkeit" von Nöten sei, welche als „Vermögen des Individuums" beschrieben wird, „sein Verhalten und Verhältnis zur Umwelt, die eigene Biographie und das Leben in der Gemeinschaft selbstständig zu gestalten" (Baethge u.a. 2004, S. 15). Wie soll sich diese entwickeln können, wenn PISA-Drill und eine Schulaufsicht durch Standardisierung und Evaluation sich ausbreiten? Ist es das, was PISA uns bringt?

Literatur:
Arnold, R. / Schüssler, I.:
Wandel der Lernkulturen. Darmstadt 1998.

Baethge, M. u.a.:
Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbeicht. Berlin 2004.

Dohmen, G.:
Das informelle Lernen. Die internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller. Bonn 2001.

Müller, H.-J.:
Hospitationskategorien als Qualitätsstandards einer reflexiven Unterrichtsgestaltung - Konsequenzen ausTIMSS und PISA. In: PädForum 32.1
23 Jg. (2004) 4, S. 229-232

Postman, N.:
Keine Götter  mehr. Berlin 1995.

Wimmer, R.:
Organisation und Beratung. Systemtheoretische Perspektiven für die Praxis. Heidelberg 2004.
 
PF:ue • Nr. 1/2005


Adresse der Verfasser:
Prof. Dr. Rolf Arnold
Dr. Hans-Joachim Müller
Technische Universität Kaiserslautern
Fachgebiet Pädagogik
Pfaffenbergstr. 95
67663 Kaiserslautern

 

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